Die Ausfahrt

Januar '02, © J.A.

Ich stehe neben meinem Motorrad und betrachte es mit einem Blick, den Außenstehende vielleicht als zärtlich bezeichnen würden. In Gedanken versunken ziehe ich ein Soft-Pack Zigaretten aus der Innentasche meiner Jeansjacke. Es ist arg verbeult, und auch die Zigarette, die ich daraus hervor fummle, hat sicher schon einmal bessere Zeiten erlebt. Ich stecke die Packung zurück und grabe nach meinem Feuerzeug.
Eine kurze Rast an einer kleinen Haltebucht, einem unbedeutenden Aussichtspunkt an einer wenig befahrenen Landstraße. Der Himmel leuchtet in strahlendem Blau, und die Aussicht, die sich einem hier bietet, läßt weit blicken, interessiert mich aber nicht.
Mein Blick wandert die schmale Straße entlang, die durch die hügelige Landschaft fließt, bis zur nächsten Kurve und folgt ihrem Verlauf dann weiter, bis sie in einem ausgedehnten Waldstück verschwindet.
Ich setze mich auf einen flachen Findling, den wohl irgend jemand vor langer Zeit hier verloren hat, und stecke mir die Zigarette an. Vielleicht wäre die Bank, die neben mir steht, bequemer, aber ich säße dann mit dem Rücken zur Straße und könnte nur die Aussicht genießen, und wie gesagt: Aussichten interessieren mich nicht.
Ein langer Zug, und der Rauch strömt bis tief in die Spitzen meiner Lungenflügel. Die Zigarette brennt schnell ab, und als ich die Asche abklopfe bleibt die Glut als spitzer Kegel zurück.
Ich starre wieder zu meinem Motorrad. In Gedanken habe ich die Handschuhe, die noch auf dem Tank liegen, bereits wieder über meine Finger gestreift und den Helm aufgesetzt. Meine kleine schwarze Eierschale, die mehr die Ausrede eines Helmes darstellt und im Moment noch am Lenker baumelt: mit offenen Ohren steigert sich das Fahrerlebnis enorm.
Ein weiterer langer Zug an der Zigarette. Manche Menschen nennen das eine Zigarette heiß zu rauchen, aber wenn ich Motorrad fahre, können die notwendigen Pausen nie kurz genug sein. An meinem inneren Auge fliegen schon die Bäume vorbei. Der graue, poröse Asphalt rast auf mich zu und zeigt mir wo es hin gehen kann. Aufgekratzt rolle ich die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.
Von meinem Geburtsort aus gibt es drei Alternativen, um hierher zu gelangen. Auf dem kürzesten Weg über die Bundesstraße: breit ausgebaut, aber stark befahren, außerdem ständig unterbrochen von zahlreichen kleinen Gemeinden, die einen immer wieder ausbremsen. Knotenpunkte, in denen sich von Ampeln gesteuert der Verkehr durch die Ebene und aus dem hügeligen Hinterland staut.
Schneller geht es über die Autobahn, auch wenn man, um sie zu erreichen, erst durch die gesamte Stadt fahren muß.
Beide Routen kann man nur ertragen durch die Vorfreude oder Erwartung auf das, was man auf ihnen erreicht, und der Verkehr ist derart zielgerichtet, daß die Teilnehmer alles andere um sich herum aus den Augen zu verlieren scheinen.
Ich schnippe die Kippe auf die Straße - rauchen ist Zeitverschwendung, vor allem, wenn man etwas besseres zu tun hat -, stütze mich mit meinen Händen auf meinen Knien ab und stehe mit einem Ruck auf. Drei Schritte, dann bin ich bei meinem Motorrad. Während ich nach meinem Helm greife richtet sich mein Blick bereits wieder auf die vor mir liegende Strecke.
Die dritte Möglichkeit nimmt die meiste Zeit in Anspruch, ist aber mit Abstand die Interessanteste. Anders als bei den beiden anderen Wegen verläßt man die Stadt nicht in Richtung Westen, sondern nach Osten und biegt nach kaum einem Kilometer in die Berge ab. Die Strecke beginnt mit einem lang gezogenen Steilstück, das in einer scharfen Linkskurve endet, und zieht sich dann bergab, bergauf in langen Schwüngen und spitzen Haarnadeln über die bewaldeten Hügel. Dieser Weg ist schmal, unübersichtlich und übersät mit Schlaglöchern und Rollsplitt, aber derart abgelegen, daß du im Falle eines Falles gar keine andere Möglichkeit hast, als allein dich selbst dafür verantwortlich zu machen, aber auch nur dir selbst gegenüber verantwortlich bist. Die Freiheit absoluter Verantwortungslosigkeit.
Mit einem Klick rastet der Verschluß meines Helmes unter meinem Kinn ein, dann steige ich auf, nehme die Handschuhe vom Tank und streife sie über. Ich schalte die Zündung ein und starte den Motor.
Ein kurzer Zug am Gashahn und mir schießen Bilder von einer anderen Welt durch den Kopf: älter, brutaler, natürlicher.
Gang einlegen, ein kurzer Blick die Straße hinauf und hinunter, Kupplung kommen lassen und Gas geben, diesmal ein langer, tiefer Zug. In nervöser Erwartung springt das Motorrad nach vorne, den Hügel hinab, hinein in einen langgezogenen Linksschwung und wieder hinauf, auf eine scharfe Rechtskurve zu.
Weit links anfahren, anbremsen und runterschalten, dabei den Scheitelpunkt anvisieren. Mit der linken Hand das Einkippen in die Kurve einleiten, Gewicht in die Kurve hinein verlagern, Knie abspreizen, den Scheitelpunkt flüssig durchfahren und wieder ein langer Zug am Gas.
Die Wiesen fliegen rechts und links an mir vorbei, ein einzelner Baum, Pfosten zwischen denen Elektrodraht gespannt ist, um die Kühe zurückzuhalten.
Meine Gedanken verlieren sich in dieser besonderen Leere, die nur noch Raum läßt für Intuition.
Dann hinein in den Wald. Sofort wird es kühler, und Licht und Schatten spielen ihr verwirrendes Spiel auf dem grauen Belag der Straße. Zwei leichte Kurven, dann ein langes Bergabstück, das sich in sachten Schlangenlinien an den Hang schmiegt und das man im Geradeauslauf hinuntersausen kann. Meine Augen beginnen zu tränen und meine Wangen flattern im Fahrtwind, der in meinen Ohren das Brüllen des Motors niederschreit.
Keine Skepsis, keinen Zweifel, keine Angst. Ein breites Grinsen in meinem Gesicht.
In Serpentinen den nächsten Berg hinauf, darüber hinweg und wieder hinunter. Kurve um Kurve und Gerade um Gerade.
Bei einer Abfahrt stoße ich im spitzen Winkel auf eine Bundesstraße, die sich aus dem Tal kommend gemütlich den Berg hinauf zieht, und folge ihr dahin. Auf einer Kuppe nehme ich neben der Straße einen Parkplatz wahr, von dem aus man bequem zu einem Rotwildgehege spazieren kann. Eine junge Familie mit Einzelkind und ein Seniorenpärchen in Wandertracht starren mir fassungslos hinterher.
Einmal wurde ich gefragt, wohin ich eigentlich bei meinen Ausfahrten fahren würde. Ich sah mein Gegenüber damals verständnislos an: "Wohin? Diese Frage stellt sich doch überhaupt nicht, allerhöchstens kannst du fragen wo."
Keinen halben Kilometer weiter verlasse ich die Bundesstraße wieder zu Gunsten einer anderen schmalen Nebenstrecke, und ich hänge wieder mit einem tiefen Zug am Gas.
Kurz führt diese Strecke mich aus dem Wald hinaus wieder an von der Sonne beschienenen Feldern und Wiesen vorbei, bis sie mich in einem langen Bogen wieder in die Schattenspiele der Bäume und auf eine lange Gerade zurückführt. Der folgende Kurvenreigen wird von einer schnellen Links eingeleitet, die mich betörend anlächelt.
Nachdem ich den Führerschein gemacht und mir ein Motorrad gekauft hatte, fuhr ich bei einer ersten ausgedehnten Ausfahrt unter anderem einen Paß entlang, dessen Belag an unzähligen Stellen ausgebessert worden war. Diese Teerflecken waren durch die Hitze der damals brennenden Augustsonne glitschig wie Glatteis, und mehr als einmal schoß mir das Adrenalin durch den Körper, wenn die Reifen die Haftung auf diesen schwarzen Ungetümen verloren und ich mich schon über den Asphalt rutschen sah. Gerade dieser gab meinen Reifen dann aber wieder den Halt, den sie brauchten, um uns auf der Strecke zu halten.
Diesmal findet mein Vorderrad keine Haftung mehr und zieht mein Motorrad hinter sich her. Der Lenker schlägt aus und wird mir aus den Händen gerissen. Der Asphalt rast auf mich zu und mit einem dumpfen Schlag, der sich in angenehm betäubender Schwärze über mein Genick und die Wirbelsäule im ganzen Körper ausbreitet, klatscht mein Gesicht auf die Straße. Haut, Blut und Knochensplitter. Das Schlüsselbein gibt nach, genauso wie mein linkes Knie, und der Fahrbahnbelag brennt sich durch meine Jeansjacke bis auf die Haut und weiter ins Fleisch. Tangential rutsche ich aus der Kurve und fliege zwischen den Bäumen, die an der Böschung stehen, hindurch, bis mich ein gewaltiger Ast aufhält, mir dabei mein Becken zertrümmert und gleich darauf fallen läßt wie eine heiße Kartoffel. Sanft werde ich aufgefangen von einem Bachbett, in dem sich ein schmales Rinnsal durch das Laub des letzten Herbstes quält.
Irgend jemand sagte mir, nachdem ich ihm von meinen Erlebnissen mit den Teerflecken auf der Paßstraße erzählt hatte: "Nur weil du noch nicht tot bist, solltest du nicht übermütig werden."
Egal, morgen suche ich mir einen anderen Weg.

 

:: Neuigkeiten :: Texte :: Kochzeit :: Unsinn :: Gästebuch :: Impressum ::
:: joerg@gueldenstern.de

:: Gueldenstern :: Texte :: Die Ausfahrt ::