Beerdigung

Juli '02 / Oktober '05, © J.A.

Die Sonne strahlt fröhlich. Der Himmel erstreckt sich von Horizont zu Horizont in tiefem Blau.
Das Wetter meinte es heute gut.
Das Laub der umstehenden Bäume leuchtet nach den vielen Regentagen in sattem Grün und scheint die wärmenden Strahlen der Sonne genießend aufzusaugen. Auch die große Rasenfläche, die sich auf der rechten Seite des Weges bis zum einhundert Meter entfernten Waldrand erstreckt, liegt da wie ein Sonnenanbeter, der nichts anderes will, als sich von den Strapazen der letzten Wochen zu erholen.
Eine Krähe pickt nach einem Wurm.
Der blanke Schädel eines Gefallenen, der höhnisch grinsend mit seinem einzig verbliebenen Auge zu ihr auf blickt.
Es kann nicht ewig regnen.
Und auf Regen folgt Sonnenschein.
Beinahe hätte sie gelacht.
Das Auge ist der Leckerbissen.
Die kross gegrillte Haut, die man von der sich weitenden Brust des Hähnchens zieht, um sie auf den Tellerrand zu legen und erst am Schluss zu genießen.
Beinahe hätte sie gelacht.
Aber die Hitze zwingt sie inne zu halten.
Mit einem schmatzenden Geräusch schlürft die Krähe das Auge, wie der Genießer die noch zuckende Auster.
Beinahe hätte sie gelacht.
Verzweiflung steigt brodelnd nach oben.
Gelacht.
Der Schädel starrt sie aus seinen leeren Höhlen an. Sie riecht verbrannte Haut.
Kochende Wut.
Gelacht!
Du meinst es wirklich gut mit mir.
Gütiger Gott.
Vorhin hat sie sogar einen Eichelhäher gesehen. Ausgerechnet hier. Den ersten seit Jahren.
Sie liebt Vögel, ihre Freiheit und Zerbrechlichkeit. Den Frieden.
Er sprang mehr als er flog.
Warum ausgerechnet hier.
Von Grabstein zu Grabstein.
Geboren 1891, gestorben 1985.
Warum ausgerechnet jetzt.
Geboren 1983, gestorben 1986.
Zu ihrer Linken liegt das Leid.
Mit kräftigen Flügelschlägen und wippenden Beinen erhebt sich die Krähe, um in einem Rundflug in den Himmel zu steigen.
Warum? Warum nur?
Ein Blick in den Himmel.
Wieder dieser stechende Schmerz.
Das Gesicht verzerrt zu einer Grimasse des Hasses.
Hoffnungslose, vollendete Verzweiflung.
Absolutes Nichtverstehen.
Der Drang dir mit der geschüttelten Faust den Kampf anzusagen.
Ihre beste Freundin steht ihr zur Seite und nimmt ihre Hand. Ulrike. Das Versprechen immer für sie da zu sein.
In guten wie in schlechten Zeiten.
Wie kannst du nur.
Bis dass der Tod euch scheidet.
Wie kannst du das nur zulassen.
Der Tod.
Mitgefühl. Von Ulrike. Dahinter Ulrikes Mann. Ihr starker, schöner Mann.
Silvester, vorletztes Jahr. Ein Badezimmer in der Wohnung eines Freundes. Kalte Fliesen, auf denen sich zwei Körper reiben.
Ulrikes schöner, starker Mann.
Wie kannst du nur.
Ulrike weiß von nichts.
Ihr eigener Mann weiß von nichts.
Ein Ausrutscher.
Ulrikes kleiner, schwacher Mann.
Bedeutungslos.
Wusste! Ihr eigener Mann wusste von nichts.
Sicher.
Ihr Mann springt von seinem Stuhl auf. Hält mit Zorn in den Augen die gerollte Zeitung hoch. Sie blickt verächtlich von ihrem Frühstücksmüsli auf, hält aber kurz inne. Er besinnt sich. Atmet durch, legt die Zeitung auf den Tisch, nimmt seinen Mantel und geht.
Die Tür fällt ins Schloss.
Wo bist du.
Ulrikes Hand.
Ein einsamer Strand in Australien. Sie flieht ausgelassen und jubelnd vor ihrem Mann, der ihr lachend folgt. Bis er sie erreicht und unter dem Schatten einer Palme in den kühlen Sand zwingt
Ich liebe Dich.
Ein Hotelzimmer in Leipzig. Ein Mann träumt friedlich von seiner Frau. Auf der Seite liegend, mit einem Bein über der Decke. Im Zimmer darunter liest jemand im Bett, bis ihm die Augen zufallen. Die Zigarette gleitet ihm aus den kraftlos gewordenen Fingern und rollt auf das Bettlaken. Die Glut frisst ein Loch und erreicht die Matratze.
Die Lücke ist gerissen.
Wie kannst du nur.
Ihr eigener Mann wusste von nichts.
Wie kannst du nur zulassen, das heute die Sonne scheint.
Vor drei Wochen hat es doch auch geregnet. Vor drei Wochen, als sie vor dem Fernseher saß und in den Acht-Uhr-Nachrichten von dem großen Hotelbrand erfuhr. Als sie dann an ihren Fingernägeln kauend neben dem Telefon saß und auf seinen Anruf wartete.
Einundzwanzig Uhr. Als sie am nächsten Morgen neben dem Telefon aufwachte und immer noch wartete. Die ganze Zeit über prasselte ohne Unterlass der Regen gegen die Fensterscheiben ihrer gemeinsamen Apartmentwohnung.
Der Pfarrer hat seine Grabrede beendet. Der Sarg gleitet hinab in die Dunkelheit.
Viele schöne Worte.
Ein leiser Schrei.
Ich liebe Dich.
Erschöpft wendet sie sich von seinem Grab ab.
Ob es ihr besser ginge, wenn sie wüßte, dass ihr Mann gerade auf dem Weg nach St. Tropez ist. In einem schicken Cabrio mit einer hübschen Blondine im Arm?

 

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