"Zivigedichte"

1991 - 1992, © J.A.

nachts

die laternen brennen noch
aber die strassen sind leer
keine menschenseele
hochgeklappte gehwege
vereinzelt jagen autos durch die stadt
in panischer angst
nicht rechtzeitig
nach hause zu kommen
auf dem marktplatz gurren
ab und zu verschlafen die tauben
ich sitze am brunnen
und klammere mich an mein bier
in der hoffnung
auf einen besseren tag

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haus der kranken

sterile gerüche, weisse wände, betten, anzüge
sterile weisse menschen.
kaum ein lachen durchdringt diese reinheit.
man spürt nur krankheit,
riecht den angstschweiss derer, die sich vom tod verfolgt fühlen.
es ist abstossend,
dass jeder nur deshalb so schnell gesund wird,
um schnell wieder rauszukommen,
ein gesunder geist 
lebt nur in einem gesunden körper.
ein wort, dass hier auf abscheuliche weise 
seine richtigkeit bestätigt.
für mich jedenfalls ist ein krankenhaus 
der einzige ort,
an dem ich es,
vor mir selbst,
rechtfertigen könnte, verrückt zu werden.

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im gasthof

die kneipe ist voll
so wie mein aschenbecher
ich beobachte leute
paar gesichter hab' ich schon gesehen
aber gesichter ohne namen
halbwüchsige in einer der hinteren ecken
machen ihre spielchen mit dem zucker
eine gruppe frischgebackener studenten
streitet über politik:
"ein tritt in den hintern reicht."
"nein! unserem kanzler gehört die fresse poliert!"
in der mitte vom raum
an einem runden tisch
turtelt ein pärchen
während ein araber krampfhaft versucht
ihm eine rose für sie anzudrehen
ohne sinn für emanzipation
und ich denke daran
wie wir das letzte mal hier sassen
witze rissen über's heiraten
später habe ich mir allen ernstes vorgestellt
wie es wohl wäre
mit dir zusammenzuleben
ich denke ich bin verückt
aber dann sehe ich dein gesicht
im nebel meiner gedanken
und ich weiss
nein
ich bin nicht verrückt
ich bin verliebt

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nach dem ende

alleine sitze ich am tisch
ich erwarte niemanden mehr
aber den stuhl neben mir halte ich frei
es gibt keinen
der deinen platz einnehmen könnte

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der morgen

das aufstehen ist das schlimmste
der wecker fängt an zu schreien
ich verflechte sein gekreische
in meine träume
bis es keinen sinn mehr ergibt
dann schrecke ich hoch aus meinem schlaf
der wiedermal nicht ausreichend war
frage mich, wo ich bin, was gestern war
fasse mir an den schmerzenden kopf
und weiss es wieder
der tag kann beginnen

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aber das ist mir egal

natürlich sitze ich in meinem zimmer
natürlich bin ich allein
natürlich höre ich deprimierende musik
natürlich rauche ich eine nach der anderen
natürlich trinke ich ein kühles bier
natürlich denke ich nur an sie
natürlich bin ich nacher sinnlos betrunken
natürlich ändert das nichts mehr... gar nichts

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ein paar wirre minuten

ich sehe die uhr
betrachte das ziffernblatt, die zeiger
die sekunde für sekunde
    minute für minute
    stunde für stunde weiter wandern
das ticken dröhnt in meinen ohren
meinem kopf
doch die zeit ist bedeutungslos
steht still
wie die welt um mich herum
ich sitze zusammen mit gott
in einer streichholzschachtel
und unterhalte mich mit ihm
über seine schuhe
die mindestens zwei nummern zu gross sind

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der mord am augenblick

da sitzt sie, mir gegenüber
ihr kinn auf ihren kleinen fäuste gestützt
ein paar von ihren hochgekämmten haaren
leisten widerstand
und fallen ihr ins gesicht
verdecken teilweise ihre augen
aus denen sie mich anblickt
von denen ich meine eigenen
nicht losreissen kann
sie lächelt ihr geheimnisvolles lächeln
blässt ab und zu die strähne weg
ohne grosse wirkung
wir schweigen
geniessen den augenblick
doch da kommt der kellner
er zerstört alles in dem er spricht:
"was wollt ihr haben?"
unsere ruhe
aber das bekommt man hier nicht
also bitte was zu trinken
jeder sitzt vor seinem glas
und kümmert sich
wieder um seinen eigenen scheiss
der augenblick nimmt schon
den geruch der verwesung an 

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was die zukunft bringt

meine haare wachsen schnell
und millimeter für millimeter werde ich älter
die schule ist vorbei
meine jugendzeit löst sich in wohlgefallen auf
langsam, aber sicher
nichts wird wie es war, nichts bleibt wie es ist
gestern war lustig
heute ist nett
morgen ist aus
und doch... noch lebe ich
meine haare wachsen schnell
genauso wie meine resignation
und der frust
irgendwann erwachsen sein zu müssen
vom licht in die dunkelheit zu treten
ins aus
es ist nicht besser tot zu leben
als früh zu sterben
allerdings bleibt noch ein funke
viele fanden ihren weg ins graue leben
für sie war es ein abenteuer
vielleicht ist es das wirklich
vielleicht wachsen meine haare und alles wird gut
... im warten auf das ende

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eine erfahrung

lehne dich nie ohne absicht gegen verschlossene türen
sie könnten sich unvermittelt öffnen 

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der sinn des lebens

das leben ist ein wunder
und jedes individuelle lebewesen ist noch wunderbarer
und welchen sinn hat so ein wunder?
den gleichen, wie darauf zu warten!

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einsicht

alles was lebt, lebt hier
alles was tot ist, ist hier am verwesen
die hölle ist ein kartenspiel
der himmel ist ein lotto-gewinn
unmöglich frieden zu finden, wo krieg herrscht
unmöglich krieg zu suchen, wo frieden ist
unmöglich eine strasse zu verlassen, die von zwei wendeplatten beendet wird
keine ahnung wie lange wände weiss bleiben, wenn sich schwarze schatten über ihnen ausbreiten
keine ahnung wie lange ein atom-pilz braucht, um erwachsen zu werden
keine ahnung, wie lange ich brauche, um zu merken, dass ich glücklich bin

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atom

dunkle wolken zogen auf
am himmel der gehenkten
und es war nicht die nacht
die einen mantel über den letzten von 2250 tagen legte

 

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