Förderung

März '05, © J.A.

Vor zwei Tagen, hatte Albers Post von der Allgemeinen Angestelltenverwaltung bekommen. Eine Vorladung, die besagte, dass für ihn heute um 14.30 Uhr wegen einer dringenden Angelegenheit seine Person betreffend ein Termin bei seinem Beobachter Herrn Winkhaus reserviert sei.
Albers mochte solch kurzfristige Planänderungen nicht. Er hatte Termine verschieben müssen, Arbeit blieb liegen.
Vor allem bereitete ihm der Zeitpunkt Sorgen. Nicht dieser spezielle Tag oder diese spezielle Uhrzeit. Der Zeitpunkt in Bezug auf seine derzeitige Verfassung war es, der ihm Unbehagen bereitete.
Nervös durchsuchte er noch einmal seine dünne, schwarze Mappe, in der er seine Papiere und Zeugnisse für diesen Besuch verstaut hatte. Soweit er sah fehlte nichts. Das letzte Zeugnis, das ihm von seinem Abteilungsleiter heute morgen noch ausgestellt worden war, hatte er bewußt in der abschließbaren Schublade in seinem Schreibtisch hinterlegt. Es war nicht zu seinem Vorteil ausgefallen und so hielt er es für das Beste dieses kompromittierende Schriftstück zu diesem Termin nicht vorzulegen. Nicht, dass die anderen Zeugnisse, die ihm in den letzten Monaten ausgestellt worden waren, wirklich gut gewesen wären – er hatte seine Arbeit doch sträflich vernachlässigt –, aber dieses letzte war vernichtend gewesen.
Ein vergleichbares Zeugnis hatte ihm übrigens gestern abend auch seine Frau ausgestellt. Was zu einem ruhigen Abend vor dem Fernseher hätte werden können uferte aus, als seine Frau sich unvermittelt in übertriebene Beschuldigungen verstieg, die seine Loyalität zu und seinen Einsatz für die Gesellschaft im allgemeinen und seine Frau selbst im besonderen anzweifelten. In ihrer Rage wanderte sie in ihrem Monolog von „Therapie“ über „zeitweise Trennung“ direkt zur „Scheidung“ und zwang ihn schließlich – zur allgemeinen Beruhigung – die Wohnung zu verlassen und für die nächsten Tage in einem Hotel zu übernachten.
Albers berufliche und familiäre Zukunft hing also vom Wohlwollen seines Beobachters Herrn Winkhaus ab, aber darauf machte er sich keine Hoffnungen, denn rational betrachtet war es doch eigentlich Herr Winkhaus selbst gewesen, der durch seine Nachlässigkeit bei Albers letztem Termin hier vor 26 Monaten diese prekäre Situation heraufbeschworen hatte. Und auch wenn Winkhaus sich noch an seinen eigenen Fehler erinnern könnte würde er für die Folgen sicher Albers allein verantwortlich machen.
Bis zu diesem Zeitpunkt vor 26 Monaten war Albers Karriere planmäßig, fast schon vorbildlich verlaufen. Durch seine regelmäßige Teilnahme an der Weiterführenden Angestelltenbildung, sein gutes abschneiden bei den halbjährlichen Eignungstests und die guten Zeugnisse, die er bis dahin von seinen Vorgesetzten erhalten hatte, ging es für ihn auf der Karriereleiter stetig aufwärts.
Dann wurde Albers, zwei Monate vor Ende des aktuellen halbjährlichen Turnus, mit einer Vorladung, ähnlich der, die er vor zwei Tagen erhalten hatte, zur Allgemeinen Angestelltenverwaltung gerufen. Der Termin war damals ähnlich kurzfristig angesetzt gewesen, allerdings mit den angedeuteten, wesentlich positiveren Vorzeichen.
Aufgrund der außerplanmäßigen Zurückstufung eines Angestellten XY war damals eine Stelle in der mittleren Sekretärslaufbahn Bereich Prozessorgestützte Haushaltsoptimierung in einer der angesehensten Firmen auf diesem Gebiet freigeworden, und Albers sollte diese Stelle fortan ausfüllen.
Eine solche vorzeitige Berufung war ein nicht zu erwartender Karrieresprung und stellte für die Zukunft hervorragende Möglichkeiten in Aussicht. Leider stellte Albers Beobachter Winkhaus durch seine Unachtsamkeit die Weichen in eine andere Richtung.
Auch damals hatte Albers mehrere Minuten über den festgesetzten Termin hinaus warten müssen bis Herr Winkhaus ihn in sein Büro bat. Kaum das Albers auf dem angebotenen Stuhl Platz nehmen konnte, hatte sein Beobachter ihn schon in ein Gespräch verstrickt mit dessen Thema Albers nicht das geringste anzufangen wußte. Verzweifelt war er bemüht kluge Antworten zu geben, konnte aber schon die verschiedenen Begriffe die Winkhaus benutzte keinem ihm bekannten Bereich seines Lebens zuordnen. Winkhaus bemerkte diese Unsicherheiten natürlich, schrieb sie aber der Aufregung zu, in der sich Herr Albers zweifellos befand. Erst als sich Albers erdreistete die Frage zu stellen, „was ist eine Kuh?“ wollte seinem Beobachter Herrn Winkhaus scheinbar der Kragen platzen. Glücklicherweise nahm Winkhaus zur eigenen Ablenkung und Beruhigung noch einmal Albers vermeintliche Akte zur Hand, erkannte seinen Fehler und wischte dieses peinliche Zwischenspiel mit einer Handbewegung vom Tisch.
Albers erinnerte sich noch sehr genau an jede Einzelheit jenes Termins bei seinem Beobachter Herrn Winkhaus. Damals hatte ihm der Schweiß genauso dick auf der Stirn gestanden wie heute, nur das er damals gänzlich unschuldig an der Situation gewesen war und sich schließlich auch alles zum besseren gewand hatte.
Dies stand heute wahrlich nicht in Aussicht und daran war Albers, wie er sich inzwischen eingestand, sicher nicht unschuldig. Die feinen Nuancen in der Formulierung der Vorladung wiesen darauf hin, dass er heute, wie der Angestellte XY damals, dessen Posten Albers hatte übernehmen können, zurückgestuft werden sollte. In diesem Fall würde er nicht nur seine Frau verlieren sondern auch seinen gesamten Bekanntenkreis. Außerdem waren Zurückgestufte an ihren neuen Arbeitsplätzen bekanntermassen unausgelastet, genossen keines der vielen möglichen Privilegien mehr und waren darüber hinaus dem Spott der ganzen Welt ausgesetzt.
Und das alles nur wegen dieser hastigen Nachlässigkeit seines Beobachters Herrn Winkhaus.
„Was ist eine Kuh?“.
Nachdem Albers diese Frage einmal gestellt hatte, war sie ihm nicht mehr wirklich aus dem Kopf gegangen, allerdings hatte er sie anfangs noch nicht sehr ernst genommen. Aber ganz allmählich – inzwischen war er etwas über zehn Monate bei seinem neuen Arbeitgeber beschäftigt –, ganz allmählich hatte sich die Frage immer weiter in den Vordergrund gedrängt und verlangte immer lauter nach einer Antwort. Zu dieser Zeit hatte sein Schlendrian begonnen, wie es Albers selbst insgeheim nannte. Er hatte sich immer häufiger dabei ertappt, wie er über diese Frage ins Träumen geraten war und gedankenverloren an nichts und alles dachte.
Die Frage verlangte nach einer Antwort, aber er hatte diese Antwort nicht finden können.
Er hatte versuchte in die Bereiche der öffentlichen Bibliothek zu gelangen, in denen er vermutete irgendetwas über diese Kühe zu finden, aber er bekam nie die Genehmigung, Bereiche zu betreten die eine Spezialisierung voraussetzten.
Er nutzte das Angestelltennetzwerk um an Informationen zu kommen und fand nach langem suchen bei einem selbsternannten Nostalgiker einen Hinweis darauf, dass Kühe früher auf Feldern herumliefen, mehr aber auch nicht.
Unter seiner Suche hatte zwangsläufig seine Arbeitskraft gelitten, und eine zeitlang hatte er versucht diesen Verlust an Zeit durch unbezahlte Überstunden zu kompeniseren, worunter dann seine Frau zu leiden gehabt hatte. Die beständige Erfolglosigkeit seiner Bemühungen hatte ihn schlussendlich in eine Lethargie getrieben, die im Ergebnis noch einschneidender war als seine Besessenheit davor. Das alles wußte Albers, er wußte schon lange, dass er in einem Teufelskreis lebte aus dem es kein Entrinnen mehr geben würde, bis er ganz unten angekommen war. Und selbst dann war es wahrscheinlich noch nicht vorbei. Und inzwischen wäre es ihm wahrscheinlich sogar egal gewesen, ob er eine Antwort auf seine Frage bekommen würde oder nicht.
Er hatte sich entschieden, noch bevor sein Beobachter Winkhaus Gelegenheit gehabt hätte, ihm die Alternativen vorzustellen. Neunzig von Hundert aller Zurückgestuften begehen Selbstmord, innerhalb der ersten drei Monate nach ihrer Zurückstufung, selbst wenn sie in ihrem Leben weniger wichtige Fragen zu beantworten hatten als Albers.
Als Herr Winkhaus aus seinem Büro trat um Herrn Albers herein zu bitten, lag nur noch dessen dünne, schwarze Mappe auf dem Stuhl vor Winkhausens Büro.
Man fand Albers kurze Zeit später einige Straßen weiter. Scheinbar war er von einem Dach gesprungen, das er mit seinen bereits eingeschränkten Rechten gar nicht hätte betreten dürfen. Eine genauere Untersuchung gab es nicht.
Sein Körper wurde wie der eines jeden Toten zur Verwertung gebracht.
Zwei Tage später landeten seine Überreste in einem großen Futtertrog der industriellen Rindermast.

 

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