Die Rolltreppe

Dezember '01, © J.A.
für Alexia

Rolltreppen sind nichts anderes als schräg nach oben oder unten laufende Förderbänder, die ihre Passagiere von einem Stockwerk eines Gebäudes zum anderen tragen, und als solche in ihrer frühesten Form auch patentiert.
Zum Zeitpunkt der Patentvergabe war allerdings schon eine Fahrtreppe mit waagerecht laufenden Stufen in der Entwicklung, und keine Generation später wurden Rolltreppen bereits in einer Art gebaut, auf der auch die modernen Rolltreppen basieren.

Ein endloses, silbern glitzerndes Band, das tief unten aus dem Nichts auftaucht und sich im dunklen Himmel zu verlieren scheint. In ihrer Gesamtheit nicht zu erfassen reihen sich Stufen an Stufen, jede der Oberen dem Weg aufwärts folgend, ohne Unterlaß mit der Sicherheit der Mühelosigkeit.
Auch diese Rolltreppe räumt ihren Fahrgästen auf kurzen ebenen Teilstücken regelmäßig die Möglichkeit ein, abzusteigen und in weitläufigen Tunneln zu verschwinden.
Diese Tunnel weckten selbstverständlich auch sein Interesse und eine gewisse Neugierde konnte er nicht verhehlen. Er genoß zwar die Fahrt auf seiner Rolltreppe, aber er fieberte doch, zumindest noch in seiner frühen Zeit auf der Treppe, jedem neuen Tunnel entgegen, diesen Zubringern hin in eine andere vielleicht aufregendere Welt. Dabei wunderte er sich schon bald über seine eigenen Erwartungen, denn die Tunnel glichen sich untereinander wie Eier, und sie alle glichen dem einen, der ihn von wo auch immer herkommend, hinaus auf diese eine Rolltreppe geführt hatte.
Weiß gekachelte Wände, die sich in einem hohen Bogen über den schlicht grau gefliesten Boden wölben, beleuchtet von in den Wänden eingelassenen Neonröhren, die ihr Licht durch Sicherheitsglas hindurch in den Raum verteilen, steril wie Operationssäle und einladend wie Großraumbüros. Diese Zugänge konnten ihn sicher nicht verlocken, die wunderbar sorgenlose Welt seiner Rolltreppe zu verlassen, und wenn er eigentlich auch nicht wirklich wußte, wohin ihn diese führen würde, so hatte er doch wenigstens ein Bild vor Augen von der Tristes in die ihn die blank geleckten Röhren leiten würden.
Allerdings gibt es auch andere Tunnel, schmutzig und düster, die sich wie finstere Schächte neben der Rolltreppe auftun und in unvorstellbare Abgründe zu führen scheinen. Oft genug spielte er mit dem Gedanken, gerade einen dieser Schlünde, die ihn mit stinkendem Atem hauchend zu sich riefen, für seinen Abgang auszuwählen, aber es waren eben nur romantische Spielereien.
Keiner dieser Gänge, ob weiß, ob schwarz, finster oder hell, konnte ihm die Freiheiten bieten, die seine Rolltreppe vor ihm ausbreitete, davon hatte er sich inzwischen überzeugt.
Jeder Abstieg in einen der Tunnel hätte das Ende anderer neuer Möglichkeiten bedeutet, und jedesmal, wenn sein Blick hoch zu seinem Horizont wanderte, dahin, wo dieses silberne Band zu verschwinden schien, wußte er, daß seine Rolltreppe ihm noch unendlich viele Möglichkeiten bieten würde, und aus dieser Lage heraus brauchte er wahrlich keinen Gedanken an eine vielleicht verpaßte Gelegenheit zu verschwenden.
Andere Menschen warnten ihn vor dieser törichten Einstellung, versuchten, ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, die trügerische Sicherheit der Rolltreppe verlassen zu müssen, um in den Tunneln sein Glück zu finden, dumpfe Stimmen, die ihre Ratschläge meist aus den grell leuchtenden Tiefen der weißen Schächte zu ihm hinaus posaunten, belehrend, drohend, immer häufiger verzweifelt.
Er hörte ihnen zu, denn überhören konnte er sie nicht, aber genauso wenig konnte er ihre Argumente und Vorbehalte nachvollziehen. Wenn man den Himmel sieht, will man kein Maulwurf sein, aber das zu werden erwarteten sie von ihm. Diese Menschen fristeten lieber in tiefen Stollen ihr Leben, als sich nach oben zu graben und die große weite Welt zu entdecken und ihre Möglichkeiten zu nutzen. Alle beeinflußt von Gesetzen, die andere, die sich für berufen hielten, aus wild zusammengeschusterten Ideen und Theorien heraus aufgestellt hatten.
Verlasse die Rolltreppe und nutze die Möglichkeit, die sich dir bietet. - Warum sollte ich das tun, wenn mir hier draußen noch so viele Möglichkeiten offenstehen?
Jede Ausnahme macht ein Gesetz zur Regel, dennoch ließen sich diese dummen Menschen von althergebrachten gesellschaftlichen Konventionen in die engen Tunnel treiben, und dort trauern sie dann ihrer verlorenen Freiheit hinterher und martern ihr Gehirn mit der Frage ob und wo sie Sicherheit finden können. Sie suchen nach Unendlichkeit und finden die Antwort im Glauben an einen Gott oder in einem raffiniert zusammengeklebten Papierstreifen, nur um die Augen vor der realen Welt verschließen zu können, entwerfen Unendlichkeit als theoretische oder spirituelle Größe, aus Angst ihren wahren Ausmaßen ins Auge blicken zu müssen.
Sie sehen die Rolltreppe und stellen Fragen nach Anfang und Ende, entwickeln immer neue Instrumente nur um ihre Grenzen zu finden und entdecken diese dann doch nur durch ihre eigene selbstzerstörerische Vorstellungskraft.
Er wußte das, er war auf dem richtigen Weg. Trotzdem hatte seine Fahrt auf der Rolltreppe, nach dem ganzen, langen Weg, den er darauf mittlerweile zurückgelegt hatte, auch einen faden Beigeschmack, denn inzwischen legte er seinen Weg alleine zurück. Seine Freunde hatten sich nach und nach wie all die anderen dafür entschieden, die Rolltreppe zu verlassen und in einem der Tunnel ihr Dasein zu fristen. Nach und nach waren sie einer Panik verfallen, die er nur schwer nachvollziehen konnte. Sie faselten irgend etwas von Perspektiven, senkten schuldbewußt den Kopf und stiegen im nächsten Tunnel ab, ohne sich auch nur im Ansatz eine Vorstellung davon gemacht zu haben, was sie dort erwarten könnte, oder sich klar zu machen, welche Aussichten sie mit dieser Entscheidung hinter sich ließen. Gerade die, von denen er geglaubt hatte, sie so gut zu kennen, und die er als ebenso stark wie sich selbst eingeschätzt hatte, ließen sich verführen von den Stimmen, einschüchtern von den Normen, gegen die sie sich doch alle zusammen so lange aufgelehnt hatten.
Es blieb nichts anderes, als den Kopf zu schütteln. Den Kopf zu schütteln, über ihre Gedankenlosigkeit, über ihre Schwäche, über ihre Feigheit. Den Kopf zu schütteln aber auch über die bei ihm selbst jetzt immer häufiger aufkommenden leisen Zweifel, Stimmen in seinem Hinterkopf, die ihn fragten, ob er sich wirklich ganz sicher sei, den richtigen Weg zu gehen, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenigstens einen der Tunnel näher zu untersuchen, schon um sein Bild davon abzurunden. Den Kopf zu schütteln, um diese Stimmen endlich zu vertreiben, um die Rolltreppenfahrt wieder so unbeschwert genießen zu können wie früher.
Besonders laut wurden diese Stimmen, wenn er sich einem neuen Tunnel näherte, sie redeten beschwörend auf ihn ein, nagten an ihm, drängten ihn, und sie berührten ihn stärker als all die, die im Laufe des langen Weges aus den Tunneln zu ihm gedrungen waren. Es waren harte Diskussionen, die in seinem Kopf ausgefochten wurden, und immer häufiger kam ihm der Gedanke, wie einfach alles wäre, wenn all die folgenden Tunnel mit Brettern vernagelt oder schweren Gittern gesichert wären, verschlossen mit einer schweren Kette und einem unzerstörbaren Vorhängeschloß.
Er war auf dem richtigen Weg, und den würde er sich nicht ausreden lassen.
Irgendwann würde er wieder an einem dieser Tunnel vorbeikommen, in dem einer dieser den Zeiten des Glücks nachhängenden Menschen kauert, die, von ihrer Wahl enttäuscht, im Eingangsbereich ihres Tunnels an die Wand gelehnt mit traurigen Augen die Rolltreppe beobachten und doch den Schritt nicht wagen aufzuspringen, um mit ihr wieder weiter nach oben zu fahren und sich nach neuen Möglichkeiten umzusehen. Einer dieser Menschen, die sich nach ihrer verlorenen Freiheit sehnen, aber von der gesellschaftlichen Moral derart durchdrungen sind, daß sie den Schritt auf die Rolltreppe als verheerenden Schritt zurück empfinden. Beschämt und von sich selbst enttäuscht blicken diese gerade zu ihm auf, der immer noch diese außergewöhnliche Entschlußkraft an den Tag legt und nicht daran denkt, die Rolltreppe zu verlassen.
Diese Augenblicke gaben ihm Kraft, sie offenbarten ihm die Sicherheit der Rolltreppe, die Richtigkeit seines Handelns, die Notwendigkeit sich alle Möglichkeiten offen...
Die Rolltreppe stoppte.
Ein zartes Vibrieren, ein sanfter Ruck und die Rolltreppe stand still.
Er krallte seine Finger in den Handlauf bis die Knöchel weiß wurden und starrte mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen auf die Stufen der Treppe. Seine Gedanken rasten und kreisten doch nur um den einen Punkt. Er wartete auf den erlösenden Ruck mit dem die Treppe ihre Fahrt fortsetzen würde - vergebens.
Nach einer Ewigkeit trat aus einem der Tunnel über ihm ein Mann wie selbstverständlich auf die Rolltreppe, warf einen kurzen Blick nach oben und kam dann die Treppe herunter auf ihn zu. Seine Schritte hallten metallisch durch die unheimliche Stille, die das beständige leise Sirren der sich bewegenden Rolltreppe abgelöst hatte. Es dauerte nicht lange, da hatte der Mann ihn erreicht, erklärte ihm in knappen, aber freundlichen Worten die Situation und setzte dann, eine fröhliche Melodie pfeifend, seinen Weg nach unten fort.
Einige wesentliche Bauteile in der Mechanik der Rolltreppe seien dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen und müßten überholt werden. Angesichts der Größe der Rolltreppe und der daraus resultierenden hohen Kosten sei aber entschieden worden, die Rolltreppe stillzulegen. Weiter hatte ihm der Mann den Rat gegeben, es sei das einfachste, bis zum nächsten Tunnel zu gehen und dort dann abzusteigen.
Er hatte dem Mann mit von unterdrücktem Schmerz verzerrten Gesicht zugehört, aber wahrhaben wollte er dessen Ausführungen nicht. Er sollte tatsächlich selbständig zum nächsten Tunnel gehen? Aber in welche Richtung? Nach oben oder nach unten? So viele Möglichkeiten!
Schließlich sackte er zusammen, drückte sich auf seiner Stufe kauernd gegen die mit matt schimmernden Stahlplatten beschlagene Wand des Geländers und starrte ins Nirgendwo. Eine stille Ecke in die er sich hätte verkriechen wollen. Seine Hände wühlten in seinen Haaren bis sich die Finger darin verwickelt hatten.
Nach oben oder nach unten?
Er konnte sich einfach nicht entscheiden.

 

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