Das Orakel

März '05, © J.A.
für Manon, wegen ihrer interessanten Träume (und noch einigem mehr...)

Es ist dreckig und es stinkt, und trotzdem muss ich hier sein.
Selbst die fette Sau links neben mir kann daran nichts ändern, obwohl er mir seinen verpickelten Hintern entgegenstreckt, der nur ekelhaft notdürftig von seiner speckigen Jogginghose verdeckt wird. Der vergleichsweise zierliche Barhocker bricht fast unter seinem Gewicht zusammen, und ich bin froh nicht seine aufgequollene, verwarzte Fresse sehen zu müssen.
Sein Hemd, aus dem ich nächsten Sommer ein Zelt machen könnte, spannt sich über die Wülste, die um seine Hüften schlabbern. Ein Fettwanst der schon deshalb schwitzt, weil er immer noch atmet.
Der Lackaffe im weißen Anzug rechts von mir macht die Situation auch nicht besser – sein schmieriges Grinsen, sein neckisches Bärtchen, das hinterfotzige Blitzen seiner Augen im Schatten seines breitkrempigen Hutes. Locker lehnt er mit dem Rücken an der Theke und kümmert sich einen Scheiß darum, dass sein Jackett sich mit dem schalen Bier vollsaugt, dass hier überall vom Tresen tropft. Und ich wette: wenn er hier raus geht ist alles an ihm wieder so rein, dass ich kotzen möchte, kotzen muss!
Ich muss! Ich muss hier sein!
Ein Glas in meiner Hand – Halbleer!
Ich muss zu Atem kommen.
Das Halbvolle ist für die, die ihr Bestes geben und nachts in ihre Kissen heulen.
Am Tisch direkt hinter mir winselt ein betrunkener Wicht seiner Frau hinterher von der niemand wissen wird, ob es sie überhaupt je gehabt hat.
Ein leises Knacken in meiner Hand.
Allerfeinste Nachbarschaft.
Meine Schuhe kleben im Dreck.
Zwei Hände greifen nach meinen Hände, die immer noch das Glas umklammert halten.
Mein Glas.
Der Wirt sieht mich an. Mehr nicht.
Langsam löse ich meinen Griff.
Über seiner Schulter hängt das blau-weiß karierte Tuch mit dem er gerade eben noch ein Glas abgetrocknet hat.
Mein Griff lockert sich und erst jetzt bemerke ich das Blut an meinen Händen.
Vorsichtig zieht der Wirt den Glassplitter aus meiner linken Hand. Die Rechte ziehe ich zurück.
Der Wirt greift nach seinem Tuch, feuchtet es unter seinem laufenden Wasserhahn an und betupft damit die Wunde.
Leider lächelt der Wirt ohne Herablassung.
Er nimmt ein neues Glas vom Abtropfgitter, zapft schräg angehalten ein frisches Bier und stellt es ohne Worte vor mir auf den Tresen. Mit beiden Händen auf die Spühle gestützt wartet er darauf, dass ich den ersten Schluck nehme.
Ich bin nicht blöd und trinke.
Zufrieden hält der Wirt seine Hände in die Spühle und trocknet sie ab. Danach greift er wieder nach seinem Glas, das er neben der Spühle abgestellt hat und trocknet es weiter ab.
Nach einem weiteren Schluck aus meinem Glas versuche ich, mir mit der Zunge den Schaum von meinen Lippen zu lecken und wische mir den Mund schließlich doch mit meiner Hand ab. Möglichst unauffällig reibe ich sie an meiner Hose trocken.
Plötzlich regt sich der Anzug und dreht sich von mir weg nach links, um den noch weiter hinten liegenden Bereich entlang der Theke zu beobachten.
Zwischen der Theke und den Toiletten ist ein Treppenaufgang auf dessen oberen Absatz ein Paar Highheels auftauchen.
Lackierte Zehen.
Schmale Knie.
Kurzer Rock.
Breiter Gürtel.
Bauchfrei.
Eine Frau, die eine abgegeriffene Handtasche an ihre Brust presst. Ihre Aufmachung, beschreibt ihren Berufsstand besser als es Worte könnten. Ihr verschmiertes Makeup macht sie menschlicher als keins.
Unten angekommen blickt die Angemalte entrückt in die Runde und bleibt dabei kurz am Wirt hängen. Mit einem Ruck fängt sich die Angemalte wieder und verschwindet in der Toilette.
Derweil kommt Bewegung in den Fettwanst. Er stöhnt und schnaubt wie ein Walross, während er von seinem Barhocker rutscht. Der Barhocker quietscht erleichtert.
Mit rudernden Armen und Schwabbelhintern stapft der Fettwanst Richtung Treppe und hinauf. Stufe für Stufe. An der Treppe gibt es keinen Handlauf. Der Fettwanst stützt sich mit seinen schwitzenden Pranken an der Wand ab. Einen Elefantenfuss hoch- den anderen hinterherziehen.
Der Anzug dreht sich zu mir um und beobachtet mich.
Der Grund warum ich hier bin, ist dort oben.
Der kleine Schnitt in meiner Hand beginnt zu jucken.
Ich trinke mein Glas leer und winke dem Wirt damit zu. Der Wirt stellt sein Glas wieder zur Seite und legt sein blau-weiß kariertes Tuch darüber. Er nimmt mein neues Glas vom Abtropfgitter, zapft und serviert. Das leere Glas läßt er in die Spühle gleiten. Dann greift er wieder nach seinem blau-weiß karierten Tuch und seinem Glas. Mit prüfendem Blick hält der Wirt sein Glas ins schummrige Licht.
Ich bin hier, um zu sehen, was sich dort oben abspielt.
Zufrieden poliert der Wirt weiter an seinem Glas.
Neben dem Treppenaufgang öffnet sich die Tür zur Toilette. Die Angemalte drückt mit ihrer Schulter von innen gegen die Tür und kramt in ihrer Handtasche. Neu lackiert setzt sie sich an den nächststehenden Tisch. Mit zitternden Händen zündet sich die Angemalte eine Zigarette an. Fast alle Spuren sind verwischt.
Ich trinke und spiele mit meinem Glas.
Der Anzug starrt wieder zur Treppe. Der Fettwanst kommt zurück.
Meine Hand kribbelt.
Fast bedächtig nimmt der Fettwanst Stufe für Stufe. Seine fetten Arme hängen leblos an seinen Schultern. Nach der letzten Stufe kreist auch sein Blick im Raum, sieht dann aber auf den Boden.
Wieder der Anzug. Ich bin der Nächste.
Mit meiner Rechten wische ich mir den Mund ab. Beim Aufstehen reibe ich meine Rechte an meiner Hose. Schritt für Schritt gehe ich zum Treppenaufgang. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Angemalte. Sie bläst Rauch in die Luft.
Neben dem Fettwanst bleibe ich kurz stehen und sehe ihn an. Der Fettwanst erwidert meinen Blick. Er kaut auf seiner Unterlippe.
Dann senkt der Fettwanst seinen Kopf. Langsam geht er zu seinem angestammten Platz. Immer wieder ballt er dabei seine Linke zur Faust.
Der Anzug folgt mit seinem Blick dem Fettwanst. Der Wirt poliert sein Glas.
Da wo das schummrige Licht aus der Kneipe seine Schatten wirft, verschwindet die Treppe im Dunkeln. Ein beherzter erster Schritt. Die letzten beiden Stufen suche ich mit meinen Füssen. Mit der Hand taste ich weiter nach der Wand.
Drei vorsichtige Schritte geradeaus. Ein quer verlaufender Gang. Rechts am Ende des Ganges ein Licht. Ein hell erleuchteter Raum zu dem die Tür offen steht.
In Verlängerung des Ganges in der Ecke des Raumes sitzt eine dunkle Gestalt auf einem Stuhl. Schritt für Schritt gehe ich auf die Tür zu. Die Gestalt trägt eine olivgrüne, abgewetzte Uniform. Ein Soldat. Auf dem Kopf eine speckige Schirmmütze. Im unrasierten Gesicht steckt ein erloschener Zigarettenstummel. Neben ihm an der weissen Wand steht ein eingeöltes Sturmgewehr.
Ich betrete den Raum. Der Soldat verlagert sein Körpergewicht und kippt mit dem Stuhl leicht nach hinten gegen die Wand. Er blickt zur gegenüber liegenden Seite des Raumes.
Dort sitzen zwei weitere Soldaten an einem einfachen Tisch und spielen mit abgegriffenen Karten. Sie beachten mich nicht. Zumindest einer trägt einen Halfter mit Pistole.
Unter der nackten Glübirne in der Mitte des Raumes sitzen ein Mann und eine Frau mit hängenden Köpfen. Jeweils auf einem niedrigen Schemel mit den Rücken zueinander. Schmutzig-grau-braune Unterhemden. Ihre Ellenbogen ineinander verknotet. Mit Kabelbinder fixiert. Die Haut darunter blankgescheuert. Um ihre Oberkörper ein fingerdickes Seil. Durch die Wunden miteinander verwachsen. Ihre Unterschenkel an die Beine der Schemel gefesselt. Ihre nackten Füsse in einer Pfütze aus Pisse und...
Die Frau hebt ihren Kopf.
Ich stolpere. Der Türrahmen.
Verfilzte Strähnen kleben in ihrem Gesicht. Sie sieht mich an. Ein leuchtender Bluterguss auf ihrem Jochbein.
Ich falle.
Sie sieht mich an. Ihre Augen sind mit einem Lappen verbunden, aber sie sieht mich an.
Ich falle. Das Gewehr. Keine Hilfe.
Die Frau öffnet ihren blutverschmierten Mund. Stummel von abgebrochenen Zähne.
Nur noch zur Tür.
Mit einem Satz bin ich im Gang.
Hinter mir fällt die Tür ins Schloss.
Pause.
Mit dem Rücken an der Wand in der Dunkelheit.
Langsam rutsche ich an der Wand hinunter, bis ich auf dem Boden sitze.
Langsam.
Langsam.
Das Aufstehen fällt mir schwer. Ein paar Schritte weiter ein Lichtschimmer der von unten doch noch in den schwarzen Gang reicht.
Meine Beine zittern. Die Treppe hinunter setze ich meine Schritte vorsichtig. Die Wunde an meiner Hand hat wieder angefangen zu bluten.
Unten angekommen schweift mein Blick durch den Raum. Der Wirt stellt mir ein frisch gezapftes an meinen Platz. Ich nehme nur meinen Mantel, den dich dort zurückgelassen habe und gehe. Zwischen Windschutz und Ausgang halte ich kurz inne und lausche. Draussen prasselt der Regen auf die Pflastersteine.
Es könnte schlimmer sein.
Mit einem Ruck öffne ich die Tür und gehe im Regen davon.

 

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