Grundlos

Dezember '01, © J.A.

Wenn man am Abgrund ist gilt es, zwei Regeln zu beachten: gut festhalten und nicht nach unten sehen.

Hast du schon einmal Händchen gehalten mit einem Menschen, der diese Regeln nicht beachtet noch beachtet hat?
Die rechte Hand verkrampft um das rechte Handgelenk des jeweils anderen, beide mit vor Angst und bald auch vor Anstrengung verzerrten Gesichtern.
Man starrt sich gegenseitig in die schreckgeweiteten Augen, in den tiefen Schlund des zum letzten Schrei aufgerissenen Mundes. Zieht und zerrt aneinander mit Kraft und Gewicht, immer auf der Suche nach einem Halt für die freie Hand. Der eine im Kampf um sein Leben wild zappelnd, der andere aus dem selben Grund bemüht, sein Gleichgewicht zu halten.
Vielleicht findet einer von beiden irgendwann beruhigende Worte und sortiert sie in seinem Kopf, Worte, die nicht mehr durchdringen, weil sie nur noch stoßweise hervorgebracht werden können, weil man nur noch damit beschäftigt ist gierig neue Luft durch die zusammengebissenen Zähne in seine Lungen zu saugen. Am ganzen Körper treten die Adern hervor und der Schweiß läuft in Bächen das Rückgrat hinunter.
Alles schreit nach Flucht, und die Handflächen werden immer glitschiger, bis ein nur für Sekundenbruchteile gelockerter Griff für den ersten kurzen Ruck in die Tiefe ausreicht. Nur einen Zentimeter rutschen die Hände einander entgegen, aber beiden Beteiligten wird sofort bewußt, daß gerade dieser Zentimeter den Anfang vom Ende bedeutet.
Von nun an wird der jeweils nächste Ruck dem vorangegangenen in immer kürzer werdenden Abständen folgen und mit jedem Ruck wird der Weg, den die Hand dabei am Arm des jeweils anderen zurücklegt, immer länger werden, bis man schließlich nur noch mit den Fingerspitzen aneinander hängt.
Ein letzter leidvoller Blick, eine letzte ungestellte Frage: Warum hast du mich verlassen?
Und wenn du dann wahrnimmst, wie der andere sich langsam, aber immer schneller werdend entfernt, wirst du dich fragen, wer jetzt eigentlich in den Abgrund stürzt.

 

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