Das Geheimnis

August '04, © J.A.

Ich bin 85 Jahre alt, habe drei Kinder sieben Enkel und die Älteste meiner Enkel schenkte mir bereits einen Urenkel.
Dieser war nach langer Zeit der Erste, dem ich wieder versuchte mich anzuvertrauen, von meinem Leben zu berichten, ihm zu sagen, was ich wirklich bin, ihm die eine Geschichte zu erzählen, die mein Leben ist.
Eine Zeitspanne, die im Vergleich zu meinem Lebensalter nicht mehr ist als eine Träne im Fluss. Ihm zu erklären was ich erlebt habe und wie sehr ich mich noch heute danach sehne.
Mit Tränen in den Augen und einem Lächeln, das meinen Mund umspielt.
Endlose Hoffnung, geboren aus der tiefsten Sehnsucht nach einmal gekanntem Glück.
Gedanken an eine Liebe, die doch immer hätte währen sollen. Gefühle, die noch verletzen und töten.
Ihm zu erzählen von dem Loch, das die ewige Trennung gerissen hat. Von dem Leid, das mich zum glücklichsten und einsamsten Menschen dieser Welt gemacht hat. Unsterbliche Erinnerungen, denen ich mich nicht einmal in der Erfüllung meiner Träume entziehen kann.
Nichts ist verblasst und alles ist wahr.
Vielleicht habe ich den Namen des Mädchens vergessen, das mir den ersten Kuss schenkte. Vielleicht habe ich ihn nie gekannt.
Aber diese eine Erinnerung kann nicht sterben. Und sie darf nicht sterben.
Ich wollte, ihm davon erzählen, aber vielleicht ist sogar er schon zu alt. Verdorben von dieser Welt in der Wissen den Glauben getötet hat. Eingeholt von der Realität, die aus dem bösen Wolf den Kinderschänder macht. Offen für die Verstrickungen in der neuen Welt, aber ohne jedes Interesse für den Stoff, aus dem sie einst gewoben war.
Nicht einmal er würde mich verstehen. Selbst er würde nach einer vernünftigen Erklärung suchen, eine finden und danach trachten, mich von deren Wahrheitsgehalt zu überzeugen.
Wie die anderen, denen ich vor all den Jahren von meinem Erlebnis erzählte.
Ich blickte in seine grünen Augen und redete mir ein, das auch er noch an das gurgelnde Monster im Bach hinter den Büschen glaubte. Ich konnte nicht und strich ihm nur dankbar durchs Haar.
Es wird immer mein großes Geheimnis bleiben. Unser Geheimnis.
Und die Hoffnung wird weiter leben, das du mich doch noch einmal besuchen kommst. Auch wenn du nur wie eine sanfte Brise über mein Grab streichst und dich noch einmal an mich erinnerst.
Ich habe ein Einhorn gesehen.

 

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