Der Turm

Oktober '04, © J.A.

Es war kalt und dunkel. Die Sonne würde erst in zwanzig Minuten aufgehen. Der Bodennebel stand dicht über den vom brackigen Wasser bedeckten Feldern. Im darüber liegenden Dunst versteckten sich die Berge, die hinter dem Turm aufragten und von einem undurchdringlichen Wald bedeckt waren. Keiner wagte sich dort hin. Eigentlich war es schon Wahnsinn den Turm überhaupt zu verlassen. Aber es musste sein. So war es vorgesehen.
Es war ein Teil des Plans, den sie Befreiung nannten, und zu dem er seinen Teil hatte beitragen wollen.
Er zog seine Koppel fester und schüttelte sich. Es war jeden morgen das gleiche Ritual, jeden morgen eine neue Überwindung.
Wenn sie Zeit hatten oder bereit waren, sich die Zeit zu nehmen, versuchten sie immer etwas besonderes aus einem Tag zu machen. Es konnten Kleinigkeiten sein. Ein Kinobesuch, ein Bummel durch die Stadt. An warmen Tagen fuhren sie an ihren See. Ein ausgiebiges Picknick, ein Sprung ins kühle Nass. Wenn Julia ins Wasser ging, ging sie ins Wasser. Während sie schon im See planschte und ihn mit ihren kleinen Neckereien aufzog, stand er noch in der knöcheltiefen Brühe am Strand und spürte wie ihm die Kälte die Beine hoch kroch.
Jeden morgen einen neue Überwindung.
Der wasserdichte Poncho, den er über der Uniform trug, half wenig gegen die kriechende Feuchtigkeit. In zwei Minuten würde er bis auf die Knochen durchnässt und durchgefroren sein.
Nachdem er alles fest gezurrt und auf richtigen Sitz geprüft hatte, nahm er sein Sturmgewehr, das er wie üblich neben der Tür an der Mauer des Turms abgestellt hatte. Es lag kalt und schwer in seinen klammen Händen.
Als ihr Gruppenführer damals die Aufgaben verteilte, hatte er sich nur deshalb für die Frühpatrouille gemeldet, weil sich kein anderer dazu bereit erklären wollte und es ihm selbst angeblich egal war.
Jeden morgen eine neue Überwindung.
In den ersten Monaten hielt er sich, wie die anderen auf ihren Patrouillen auch, an die vorgeschriebene Route. In einem Radius von zwei Kilometern einmal um den Turm herum. Dem vergessenen Außenposten, jenseits von allem, das irgendeine Bedeutung hat. Die Befreiung fand scheinbar nicht hier statt.
So wurden die Patrouillen für jeden zur eigenen privaten Entdeckungsreise.
Seine zog ihn zum Meer. Um es zu erreichen musste er sich nur noch einen Kilometer weiter vom Turm entfernen und über eine schmale sich nach Norden und Süden weit hinziehende, bewaldete Hügelkette marschieren.
Nachdem er sich einmal die Zeit dafür genommen hatte verpasste er keinen Sonnenaufgang am Strand mehr.
Er hatte drei Magazine in seinem Beutel. Zwei davon steckte er sich in seinen Gürtel, das dritte führte er in den Schacht des Gewehrs ein.
Ein Blick hoch zur Aussichtsplattform des Turms. Früher grüßte ihn Tom von dort oben und beendete damit seine eigene Nachtwache.
Jetzt steckten nur noch verkohlte Balken in den Ecken des Turms, darüber verschwamm der Mond im Dunst.
Er hatte am Strand gelegen und das Foto seiner Frau liebkost. Nie hat er Julia erzählt wie sehr er das kalte Wasser in ihrem kleinen See gehasst hatte. Er liebt es dem Wasser zu zu sehen, aber er hatte nie hinein gewollt.
Jeden morgen eine neue Überwindung.
Langsam drehte er sich um. Irgend jemand hatte neben dem Turm sechs Pfosten in den Boden gerammt und die Köpfe seiner fünf Kameraden darauf gesteckt.
Ein Pfosten war noch frei.
Er ließ den Kopf sinken und begann seine Patrouille.
An den Strand ging er nicht mehr sehr oft.

 

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